Reisebeschreibung – Wanderreise Italien Friaul

Ein Reisebericht von unserer Reiseleiterin Antonietta Spizzo, die bei Cividale lebt und uns die Natisone-Täler näherbringen möchte:
Neue Hoffnungen für die Natisone Täler
Wenn man oben auf dem Gipfel vom Matajur ist, dem höchsten Berg der Natisone-Täler und gleichzeitig mit seinem dreieckigen Umriss das Symbol dieses kleinen Gebietes an der slowenischen Grenze, weitet sich der Blick von den Dolomiten bis zu den Julischen Alpen. Gebirgskette nach Gebirgskette soweit das Auge reicht. Und nach Süden erstreckt sich die Ebene bis zum Meer, zur Adria.
Hier beginnt virtuell unsere Reise durch die Natisone-Täler, diese grüne Ecke der Julischen Voralpen, ein “Land am Rand” in allen Sinnen – mit viel Geschichte und Kultur, mit viel üppigem Grün und sehr wenigen Menschen, die oft zwischen der italienischen und der slowenischen Identität zerrissen sind. Benecia heißt das Gebiet auf Slowenisch. Das bedeutet etwas wie „das slowenische Venetien“, um gleichzeitig die slowenische Herkunft und die jahrhundertelange Geschichte unter der venezianischen Herrschaft zu betonen.

Wie kann ich es für meine deutschen LeserInnen am besten vergegenwärtigen? Ich, die ich eigentlich keine Einheimische im engen Sinn bin, weder bin ich in den Tälern geboren noch spreche ich Slowenisch. Meine Muttersprache ist friulanisch-italienisch, aber dieses “Land am Rand” hat mich so liebgewonnen, dass ich glaube, dass ich hingehöre.
Immer wieder, wenn ich eine neue Gruppe treffe, muss ich an einen grauen Märzmorgen 2010 in San Pietro al Natisone denken. Es war der erste Kurs für Naturwanderführer, den der sehr engagierte zweisprachige Förderverein “Nediske Doline-Valli del Natisone” organisiert hatte. Unser Leiter ist Giovanni Coren, selbst Naturwanderführer und leidenschaftlicher Sammler von Geschichten und Traditionen der Natisone-Täler.

Jemand hat ihn “den Waldlehrer” genannt. Er hat ein lächelndes Gesicht und den sicheren Schritt einer Person, die sein ganzes Leben in der Natur verbracht hat. Seine ersten Wörter sind sehr mitreißend: “Meine lieben Leute, es ist eine schwere Aufgabe, das weiß ich, aber wir sollen versuchen, die Seele dieser Orte zu vermitteln” und er legt sich dabei eine Hand aufs Herz.
Nie werde ich diese Worte vergessen, die mich damals so berührt haben. Das ist auch meine Aufgabe geworden, und ich frage mich immer wieder, wie ich die Seele der Natisone-Täler vermitteln kann. Vielleicht durch die Bekanntschaft mit einigen Menschen, die hier leben.
Dieses hügelige Gebiet, das durch die Täler von 5 Flüssen tief geteilt ist, war bis in die 50er Jahre sehr dicht besiedelt. 170 kleinere oder grössere Siedlungen / Dörfer auf knapp 170 km². Dann kam aber die grosse Emigrationswelle der 60er Jahre und vor allem das grosse Erdbeben 1976, das alles verändert hat. Heute sind viele Dörfer fast verlassen. Wer aber noch da bleibt, ist selbstsicher und entschlossen.


Zum Beispiel Gabriella, etwa Mitte 40, die eine Bio-Landwirtschaft in Cravero betreibt, auf 300 Meter Höhe. 30 Einwohner hat das Dorf. Mit Liebe bereitet sie auch eingelegtes Obst und Gemüse vor, ganz spezielle Delikatessen, die sie auf dem Markt verkauft, und kocht ab und zu ein richtiges Mittagessen für die Wandergruppen vom Förderverein. Im Sommer wird draußen unter einer schattigen Pergola gegessen, im Winter in einer gemütlichen alten Stube. Ihre Beete sind nicht weit von der großen Dorfkirche entfernt, die mit ihren Dimensionen für die Zahl der damaligen Dorfbewohner spricht.
“Die Straßen sind heute gut, Cividale und die Ebene fast nur einen Katzensprung entfernt, warum sollte man eigentlich weggehen?“ – so spricht Gabriella. „Das Land ist fruchtbar, das Klima ist mild, das Dorf liegt in sonniger Lage, ich sehe also gute Chancen für meinen Betrieb. Und ich sage dir: auf keinen Fall würde ich auf den Donnerstag-Markt in San Pietro verzichten, das macht mir immens Spaß und ich treffe da jede Woche meine Stammkundinnen”.
Seit 2023 gehört Gabriella zu einer Gruppe entschlossener und unternehmungslustiger Unternehmerinnen. Sie haben sich unter dem Namen „Le Donne della Benecia“ zusammengeschlossen, um ihre Produkte zu vermarkten (www.ledonnedellabenecija.it). Einige von ihnen, wie Gabriella, sind Bäuerinnen und bauen Obst, Gemüse und sogar Safran an. Bruna ist Winzerin und die junge Elisa (mit Hilfe ihrer Eltern) betreibt eine kleine Viehzucht und stellt Joghurt- und Käsesorten aus der Milch der eigenen Kühe her.
Caterina aus Dughe hat ein kleines Restaurant, in dem sie mit ihren eigenen Produkten köstliche Gerichte zubereitet. Elisa und ihre Mutter Valeria backen in ihrer Konditorei in Azzida den schneckenförmigen Kuchen, der zum Wahrzeichen der Natisone-Täler geworden ist: die Gubana. Marzia aus Oblizza und Michela aus Cravero widmen sich der Gastfreundschaft und vermieten ein Ferienhaus.

Abgesehen davon, dass Michela eine sehr gute Freundin von mir ist und wir uns seit mehr als 20 Jahren kennen, finde ich ihre Geschichte besonders interessant. Sie hat Medienwissenschaft in Padua studiert und arbeitet als Kulturreferentin für die Gemeinde Cividale.
Sie wollte nie aus den Natisone-Tälern weggehen, im Gegenteil, sie wollte immer eine aktive Rolle für ihre Heimat spielen. Sie stammt aus Cravero, ist aber mit Antonio aus Rodda verheiratet. Hier haben sie das Elternhaus von Antonio renoviert und vermieten es jetzt an Touristen.

Rodda liegt auf der anderen Seite des Bergrückens in einer so schönen, sonnigen Lage, dass hier vor 100 Jahren Pfirsiche angebaut wurden, die bis nach Wien und Sankt Petersburg exportiert wurden. Das war vor 100 Jahren. Antonios Hobby ist Holz schnitzen, und zwar widmet er sich einer alten Tradition. Er schnitzt Faschingsmasken nach alten Mustern und natürlich auch seiner eigenen Kreativität folgend.
So entstehen vor allem furchterregende Gesichter von Teufeln oder auch schlichte, schwarze Masken der sogenannten “Hässlichen”, die den ewigen Kampf mit den “Schönen”, den Guten, den Engeln darstellen. Besonders toll finde ich, dass die zwei jungen Söhne Raffaele und Simone aktiv mitmachen und sogar eine Probe ihrer Schnitzkunst “live” zeigen.
Ja, der Fasching … Fasching zu feiern ist wirklich ganz tief in der Seele der Einheimischen verwurzelt. Die Bedeutung dieser alten Tradition versteht man erst, wenn man als Nicht-Einheimische die Ehre hat, eingeladen zu werden und ein tolles, originales Faschingskleid mit Blumenhut anziehen zu dürfen.
„Es ist ein wandernder und dynamischer Karneval, keine Show für Touristen, sondern ein echtes Dorffest, das eine kontinuierliche Interaktion zwischen den Masken, die von Haus zu Haus ziehen, und den Unmaskierten, die sie empfangen, erfordert.“ Mit diesen Worten beschreibt Antonio den Pust, das heißt den traditionellen Karneval, bei dem er mehrere Jahre lang die Hauptfigur, den Teufel, verkörperte – und das ist keine unbedeutende Rolle.

Die beiden Leitmasken – im wahrsten Sinne des Wortes, denn sie führen den Umzug an – sind der Teufel (Zluodij) und der Engel (Anjulac). Beide sind maskiert, jedoch trägt nur der Teufel eine Holzmaske mit auffälligen Hörnern. Er trägt auch einen schwarzen Strumpfhosenanzug, aus dem schwarze Flügel aus Pappe und ein echter Kuhschwanz herausragen. Er schwingt eine Heugabel, mit der er Unruhe und Chaos stiften soll. Er ist mit einer schweren Kette an den Engel gekettet, der ihn in Schach halten soll. Wenn der Teufel körperlich fit ist und sich in seinem Beruf engagiert, ist auch die Aufgabe des Engels nicht ganz einfach!

Der Engel ist jedoch nicht irgendein Engel, sondern kein Geringerer als der Erzengel Michael … Er ist weiß gekleidet, trägt eine lange Tunika, eine weiße Perücke und eine Maske im Gesicht. Die beiden Hauptfiguren werden von einer Schar Pustjè begleitet. Sie tragen Kleider aus bunten Streifen, hohe spitze Hüte, Glocken, die sie sich um die Taille gebunden haben, sowie kliešče, einziehbare Zangen aus Holz. Mit diesen jagen sie Kinder und Mädchen (vor allem letztere!), spielen ihnen Streiche und jagen ihnen Angst ein.
Im Umzug gibt es noch weitere traditionelle Figuren wie den Bischof und den Messerschleifer. Nie darf auch der Berač fehlen, der die Opfergaben einsammelt – heute in Form von Geld, früher in Form von Lebensmitteln – und natürlich die Akkordeonspieler. Andere Masken variieren von Jahr zu Jahr.


Auf der östlichen Flanke des Matajur liegt die Pelizzo-Schutzhütte des italienischen Alpenvereins. Fast 35 Jahre lang haben Isabella und Stefano sie bewirtschaftet. Als sie angefangen haben, waren sie ein recht junges Ehepaar. Seit sie 2023 diesen Job aufgegeben haben, ist wieder ein junges Paar da. Das ist zwar schön, weil es von Vitalität zeugt. Ich unterhalte mich jedoch lieber mit Isabella.

Sie kann sehr gut mit wenigen Worten zusammenfassen, was es bedeutet, so lange in einer Hütte auf 1300 Metern Höhe zu leben: „Es ist ein harter Job, bei dem man 24 Stunden am Tag ohne privaten Raum oder freien Tag involviert ist. Eine Unannehmlichkeit, die fast niemand berücksichtigt. Im Gegenzug lernt man, für sich selbst zu sorgen und die jeweiligen Situationen immer mit eigener Kraft zu bewältigen. Was uns jetzt fehlt, ist der Blick von oben. Wenn man oben lebt, hat man zu jeder Minute und zu jeder Jahreszeit die Wahrnehmung der Natur. Der Matajur ist ein Ort großer Stille, an dem die Sinne verfeinert werden.“
Sie erzählt weiter: “Man lernt, die verschiedenen Holzarten am Geruch zu unterscheiden, und spürt den Geruch von Meer und Seetang, den der Schirokko bringt. Es war wunderbar, morgens aufzuwachen und die Glocken der Tiere von Vitale, dem letzten Hirten des Matajur, zu hören. Man war traurig, wenn sie im Herbst hinuntergingen.


Von oben hatten wir eine privilegierte Sicht und ein klares Gefühl dafür, was sich in den letzten dreißig Jahren geändert hat. Wir haben gesehen, wie die vom Menschen genutzten Flächen schrumpften, während der Wald die Wiesen zurückeroberte. Ist das gut oder schlecht? Wir wissen es nicht. Vielleicht kann sanfter, nachhaltiger Tourismus eine Hoffnung geben. Aber wie kann man an Tourismus denken, wenn wir unser Gebiet vernachlässigen und die Brombeersträucher wie eine erstickende Umarmung in die Dörfer vordringen?
Die Pflege des Territoriums kann Arbeitsplätze schaffen, und hier wäre auch ein einziger neuer Arbeitsplatz ein Erfolg. Reden wir aber darüber, ganze Familien in die Berge zurückzubringen, brauchen wir zumindest eine Steuersenkung und eine Umstrukturierung des Landesbesitzes. Dies ist ein schwieriger Knoten, den niemand lösen möchte aus Angst vor der damit verbundenen Unbeliebtheit.”
Die Hoffnung der Natisone Täler ruht auf den engagierten jungen Leuten, die voller Energie und mit einem guten kulturellen “Reisegepäck” ausgerüstet sind. Ein Beispiel sind Isabellas Zwillingssöhne Nico und Angelo. Die beiden sind heute 34 Jahre alt und sehr aktiv im Förderverein. Angelo arbeitet selbst als Forstwache und Naturwanderführer.
Sehr engagiert ist auch Luca Postregna. Er ist 39 Jahre alt, hat ein Physikstudium abgeschlossen und ist jetzt Bürgermeister der kleinen Gemeinde Stregna, zu der auch das Dorf Cravero gehört.
Wenn Luca von seinen zahlreichen Projekten spricht, von denen einige bereits realisiert wurden, ist man sofort von seiner ansteckenden Begeisterung beeindruckt.

Tatsächlich ist seine Gemeinde die einzige der Natisone-Täler, die ein Wachstum der Einwohnerzahl verzeichnen konnte und einige EU-Förderungen erhalten hat.
Schon in der Umsetzung ist die Rückgewinnung von unbebautem Land und die Wiederherstellung von Terrassenlandschaften. Zudem wurden in Zusammenarbeit mit der Universität Udine drei Naturlehrpfade errichtet und markiert.
Er hat auch erreicht, dass die wunderschönen Magerwiesen um das Dorf Tribil zu einem geschützten Biotop erklärt wurden. Dort stehen auch viele jahrhundertealte Kastanienbäume, die nun von der Universität Udine studiert werden.

Mit diesem Eindruck von einem begeisterten Bürgermeister, der die hohe Lebensqualität der Umgebung zu schätzen weiß, möchte ich diesen Bericht über die Natisone-Täler beenden. Dort gehen die neue Wildnis der verlassenen Orte, die Auswanderung der Einwohner – ein Problem, das heute jedes ländliche Gebiet in Europa betrifft – und das Entstehen neuer umweltbewusster Kräfte Hand in Hand.
Während ich schreibe, schaue ich ab und zu aus dem Fenster. Mein Blick sucht den Matajurgipfel im Norden, wo ich meine virtuelle Tour begonnen habe. Ich freue mich schon jetzt darauf, Sie bald hinauf begleiten zu dürfen und Ihnen auch ein bisschen die Seele der Natisone-Täler zu zeigen.
Viele Grüsse aus Cividale
von Antonietta Spizzo

